Mit der Diagnose, dass ihr Sohn am Asperger-Syndrom leidet, begann für Nina Blau ein „langer Leidensweg“. Mehr als drei Jahre hat es für die heute in Bad Rodach lebende Familie gedauert, bis klar war, welche Möglichkeiten der Unterstützung es für ihr Kind gibt. „Alleingelassen“, sagt Nina Blau heute, fühlte sie sich im Dschungel der Zuständigkeiten für Kinder mit psychischer Behinderung: „Ein Informationsblatt für Eltern hätte uns schon geholfen.“ Ganz zu schweigen von Hilfe, Betreuung und Ansprechpartnern direkt vor Ort.

Immerhin: Inzwischen hat der heute 13-jährige Sohn von Nina Blau seinen Weg gemacht. Er ist glücklich an der Mittelschule in Bad Rodach, hat eine Schulassistenz bekommen und sich „von drei bis vier auf eins bis zwei“ im Notendurchschnitt gesteigert, wie seine Mutter erzählt. Aber den langen Weg bis dahin, den hätte Nina Blau nicht nur ihrem Sohn gerne erspart: „Es war auch für die Erzieher und Pädagogen nicht leicht, an Hilfestellungen zu kommen.“ Es habe eine zentrale Anlaufstelle, idealerweise in unmittelbarer örtlicher Nähe, gefehlt.

So wie Nina Blau geht es vielen Eltern mit Kindern mit Behinderung.

Deshalb hat die Bundesregierung im Juni 2021 das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz beschlossen, womit die Weichen für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe gestellt wurden: Alle Leistungen für Kinder und Jugendliche – ob mit oder ohne Behinderungen – sollen künftig unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe bei den Jugendämtern gebündelt werden. Diese Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle jungen Menschen, ganz gleich ob beziehungsweise welche Beeinträchtigung vorliegt, wird zum 1. Januar 2028 bundesweit eingeführt.

Das Jugendamt im Landkreis Coburg wird damit künftig also für noch mehr Menschen Ansprechpartner sein und noch mehr Unterstützung leisten. Und die Familien haben damit einen konkreten Ansprechpartner, der sozusagen als Koordinator für sie fungiert.

Bisher liegt die Zuständigkeit des Jugendamtes über das Kinder- und Jugendhilferecht lediglich bei den Kindern und Jugendlichen mit seelischen Behinderungen, diejenigen mit geistigen oder körperlichen oder Sinnesbehinderungen werden über die Eingliederungshilfe oder sogenannten „Behindertenhilfe“ erfasst. Hierfür liegt die Zuständigkeit beim Bezirk Oberfranken. 

Künftig ist für alle Kinder und Jugendlichen, ganz gleich ob bzw. welche Beeinträchtigung vorliegt, zuständig. Damit ein möglichst reibungsloser Übergang gelingt, werden sogenannte Verfahrenslotsen eingestellt, wie es Werner Michel für den Landkreis Coburg ist. Seit Juni 2022 ist er bereits beim Amt für Jugend und Familie beim Landkreis Coburg tätig. Er wird als verlässliche Ansprechperson für Eltern über sozialrechtliche Möglichkeiten beraten und bis zum Verfahrensabschluss oder der Bescheiderteilung Familien begleiten. Somit gewinnt das Amt weitere Beratungskompetenz und hält künftig Antworten auf alle Fragen, rund um das Thema Behinderung und Inklusion bereit.

„Das Amt für Jugend und Familie ist für alle Familien, Kinder und Jugendlichen da. Wir nehmen jeden so an wie er ist, denn ein Kind ist in erster Linie ein Kind, ganz gleich wie es aussieht, wo es herkommt, ob es eine Behinderung hat oder nicht“, erklärt die neue Jugendamtsleitung Yvonne Schnapp.

Um dieses Ideal einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe künftig in den Arbeitsalltag einfließen zu lassen und auf die neuen Herausforderungen vorbereitet zu sein, hat für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe eine Auftaktveranstaltung unter dem Titel „Die Kinder- und Jugendhilfe wird inklusiv“ stattgefunden.

Bei dieser Auftaktveranstaltung hat der Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, Herr Holger Kiesel, wertvolle Impulse gegeben, ebenso wie Dr. Harald Britze, der stellvertretende Leiter des Bayerischen Landesjugendamtes.

Herrn Kiesel bei seinem Vortrag.

Interview mit Holger Kiesel, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung

Herr Kiesel, Ihr Impulsvortrag im Jugendamt des Landkreises Coburg trägt den Titel „Die Teilhabe und Selbstbestimmung für junge Menschen mit Behinderung nimmt Fahrt auf“. Woran machen Sie das fest?

Holger Kiesel: Korrekterweise müsste es vielmehr heißen „muss Fahrt aufnehmen“. Man könnte bei dem Thema nämlich tatsächlich noch zulegen – sowohl an Tempo als auch an Intensität. Die Idee, alle Leistungen für Kinder und Jugendliche – ob mit oder ohne Behinderungen – künftig unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe bei den Jugendämtern zu bündeln, ist gut. Aber man darf nicht vergessen: Aktuell haben wir für die Eingliederungshilfe mit den Bezirken sieben Kostenträger in Bayern. Künftig werden es mit den Jugendämtern 96 sein. Das über Jahrzehnte gesammelte Wissen der Bezirke muss auf einem zügigen und leichten Kommunikationsweg zu den Jugendämtern wandern. Alle Beteiligten sind hier sehr bemüht aber gleichzeitig herrscht bei allen auch eine große Personalnot und finanzielle Beschränkungen machen es auch nicht einfacher.

Welche Rolle spielen dabei die Verfahrenslotsen?

Holger Kiesel: Sie sind eine ganz wichtige Instanz, weil für viele in den Jugendämtern das Prozedere neu sein wird. Die Verfahrenslotsen sind dabei keine Kontrolleure, sondern Vermittler, die durch den Prozess führen. Sie unterstützen alle Beteiligten, nicht nur die Familien, sondern auch die Kolleginnen und Kollegen auf diesem Weg zum inklusiven Amt für Jugend und Familie.

Aber auch hier muss noch klar definiert werden, welche konkreten Aufgaben und Befugnisse die Verfahrenslotsen haben.

Es gibt bei der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe noch eine Reihe offener Fragen. Umso wichtiger wäre es, wenn wir in sogenannten Pilotregionen schon starten und Erfahrungen sammeln würden.

Wie sieht Ihrer Meinung nach eine gelungene Inklusion aus?

Holger Kiesel: Wenn jedes Kind, egal ob mit Behinderung oder ohne und egal, welche Leistung es benötigt, Hilfe aus einer Hand bekommt. Wenn das Jugendamt sozusagen zum Koordinator für alle Kinder, Jugendlichen und Familien wird. Das ist noch ein langer Weg, aber grundsätzlich beginnt er zuallererst in den Köpfen der Bevölkerung. Erst wenn Behinderung nicht als Defizit angesehen wird, wenn man zuerst das Kind und erst als zweites dessen Behinderung sieht, kann Inklusion gelingen. Dieser Bewusstseinswandel ist extrem wichtig und beeinflusst den Lebensweg eines Kindes enorm. Statt der Beeinträchtigungen sollten wir vielmehr die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen ins Bewusstsein rücken und Vorurteile abbauen.